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Biografie

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Heinrich Heidersberger

Fotograf des ‚Wirtschaftswunders‘

Wie kaum ein anderer Fotograf steht der am 10. Juni 1906 in Ingolstadt geborene Heinrich Heidersberger für die bundesrepublikanische Architektur- und Werbefotografie der 1950er und 1960er Jahre. Dass er in der Fotografie seine Heimat finden sollte, war dabei keineswegs von Beginn an klar. Nach einigen Aufenthalten als sogenanntes Wienerkind in Dänemark verbrachte er seine Schulzeit in Linz, Oberösterreich, und versuchte sich sodann an einem Studium der Architektur in Graz, das er jedoch zugunsten der Kunst wieder aufgab: 1928 zog es ihn an die nur wenige Jahre zuvor gegründete Académie de l’Art Moderne Fernand Légers nach Paris, wo er jedoch schon bald den Pinsel gegen eine Kamera eintauschen und mit der Fotografie zu experimentieren beginnen sollte.

Im Jahr 1931 kehrte er Paris den Rücken und verbrachte die kommenden Jahre als Maler und Fotograf hauptsächlich in Den Haag und Kopenhagen, wo er unter anderem naturwissenschaftliche Reportagen fotografierte, ehe er 1936 gemeinsam mit seiner Frau Cornelia „Corry“ Botter, die er ein Jahr zuvor heimlich in der dänischen Hauptstadt geheiratet hatte, nach Berlin zog - dies wohl auch, um seine Staatsangehörigkeit nicht zu verlieren. Aus der Ehe sollten die Kinder Börge, Toni und Gerhard hervorgehen. In der Landeshauptstadt war er als Bildjournalist für die Verlagshäuser Ullstein und Scherl tätig. Er übernahm erste Aufträge als Werbe- und Architekturfotograf und konnte einige seiner Aufnahmen im internationalen Jahrbuch „Photographie“ wie auch in „Das deutsche Lichtbild“ platzieren.

 

Architekturfotograf im Nationalsozialismus

Obgleich er nie Mitglied der NSDAP oder anderer NS-Organisationen geworden ist, gelang es ihm, sich als Architekturfotograf im nationalsozialistischen Deutschland zu etablieren. Zeugnis seines Schaffens ist das 1938 erschienene Fotobuch „Ein deutsches Flugzeugwerk. Die Heinkel-Werke Oranienburg“, für dessen Bau mit Herbert Rimpl einer der erfolgreichsten NS-Architekten überhaupt verantwortlich zeichnete. Die Fotografien Heidersbergers machten Rimpl zufolge, ganz im nationalsozialistischen Duktus formulierend, die „Schönheit der Arbeit“ spürbar. Jener Architekt war es zudem, der Heidersberger eine feste Anstellung als Werksfotograf und Leiter der Bildstelle in den Reichswerken Hermann Göring in Salzgitter verschaffte, wo dieser mit einer kurzen Unterbrechung bis Ende des Krieges wirken und sogar unabkömmlich gestellt werden sollte. Hier lernte er auch Charlotte Berger kennen, die ihm als Fotolaborantin zugeteilt wurde - sie sollte ihn bis an ihr Lebensende begleiten. In den Stahlwerken, in denen Tausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zum Einsatz kamen, dokumentierte er den Aufbau der Produktionsstätten. Von seiner Arbeit sind nur wenige Aufnahmen überliefert, ist doch ein Großteil des Fotoarchivs des Unternehmens gegen Ende des Krieges zerstört worden. Passenderweise beauftragte ihn der Stern wenige Jahre später damit, die Demontage des Werks in einer Bildstrecke zu dokumentieren.

Anders als zahlreiche Fotografen, die während des Zweiten Weltkrieges in den Propagandakompagnien zum Einsatz kamen - darunter Hans Hubmann, Hilmar Pabel und Benno Wundshammer - und von ihren dort geknüpften Verbindungen in der sich neu gründenden bundesrepublikanischen Medienlandschaft profitieren sollten, pflegte Heinrich Heidersberger über die NS-Zeit hinweg keine Kontakte zu anderen Bildjournalisten oder Fotografen. Seinem Aufstieg zu einem der führenden Architekturfotografen der Bundesrepublik schadete dies indes nicht.

 

Die Nachkriegszeit als Jahres des Aufbruchs

Bevor er ab den 1950er Jahren vor allem als Architekturfotograf der namhaften Architekten der „Braunschweiger Schule“ reüssierte, die seine Inszenierungen ihrer Baukunst schätzten, arbeitete er unmittelbar nach dem Krieg als Dolmetscher und Fotograf für die englische Armee. Bereits 1946 gründete er in Braunschweig sein Atelier „Studio Five“ und konnte Anfang des folgenden Jahres eine erste Ausstellung im dortigen Kunstverein realisieren - mithin eine der ersten, wenn nicht gar die erste Fotografieausstellung der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wohl über Journalisten der Braunschweiger Zeitung, deren Verlagshaus sich in direkter Nachbarschaft zu Heidersbergers Atelier befand, wurde Henri Nannen auf ihn aufmerksam. Dieser verschaffte ihm erste Engagements als Fotoreporter für die neu gegründete Illustrierte Stern. Dort erschien unter anderem eine Reportage über die ersten Exporte aus Deutschland nach dem Krieg, aber auch seine Fotoserie „Kleid aus Licht“, die 1949 für einen frühen Fotoskandal der Bundesrepublik sorgen sollte. In der Löwenstadt selbst dokumentierte er den Abriss des Braunschweiger Schlosses; ein erster Auftrag der Volkswagenwerk GmbH führte ihn 1952 schließlich nach Wolfsburg. Nach Aufträgen für die Brunsviga Maschinenwerke, die Zuckerfabrik in Schöppenstedt, die Jenaer Glaswerke Schott & Gen. in Mainz oder die ECA-Bauten in Rühme wurden auch die Braunschweiger Architekten Friedrich Wilhelm Kraemer, Dieter Oesterlen und Walter Henn auf ihn aufmerksam, für die er in den folgenden Jahren zahlreiche ihrer geschaffenen Bauten ablichten sollte.

Ein Bekannter vermittelte ihm 1954 schließlich einen Job als Bordfotograf der MS Atlantic, die damals zwischen New York und Havanna sowie der Karibik pendelte. Während er tagsüber das vergnügte Leben der amerikanischen Middleclass an Bord festhielt, zeigte er von jeglichem Auftrag befreit in den Städten sein Talent als Dokumentar- und Straßenfotograf. Nach seiner Rückkehr erfolgte schon bald die Eheschließung mit seiner zweiten Frau, der Schauspielerin Renate Krüger, der die Kinder Benjamin, Henriette und Konstantin entstammen. In jenen Jahren begann der technisch begabte Autodidakt intensiv mit der Fotografie zu experimentieren. Wie Peter Keetman oder Oskar Kreisel fotografierte er Lichtpendelbilder, sogenannte Lissajous-Figuren, doch vermochte er anders als die beiden mit seinem eigens konstruierten Rhythmographen deutlich komplexere Lichtfiguren zu erzeugen. Nicht von ungefähr ist die noch heute in seinen Wolfsburger Atelier-Räumen zu bewundernde raumgroße Maschine durch den Fotografen und Fototheoretiker Gottfried Jäger zu einem „kinetischen Kunstwerk“ erklärt worden. Für eines seiner vielfach ausgestellten Rhythmogramme wurde er 1957 auf der XI. Triennale von Mailand mit einer Silbermedaille geehrt. Im gleichen Jahr erfolgte die Berufung in die Deutsche Gesellschaft für Photographie wie auch in den Deutschen Werkbund.

 

Sein Wirken in Wolfsburg

Nach seinem 1961 erfolgten Wolfsburg-Umzug, wo ihm die Kommune im gleichnamigen Schloss ein Atelier zur Verfügung stellte, wurde er zum Chronisten der ‚Volkswagenstadt‘. Der Fotoband „Wolfsburg - Bilder einer jungen Stadt“ entstand als Auftragsarbeit der Kommune. In diesem repräsentativen Bildband, ein Coup des modernen Stadtmarketings, präsentiert der Fotograf Stadt und Werk als Einheit. Mit dem Fotobuch sollten die gängigen Klischees über die „Stadt aus der Retorte“ korrigiert und ein modernes Bild der Stadt gezeichnet werden. So symbolisieren seine Aufnahmen den Aufbruchsoptimismus, die Energie und die Eleganz einer Stadt, in der sich das ‚Wirtschaftswunder‘ zu verdichten schien. Schon zuvor hatten ihn immer wieder Aufträge nach Wolfsburg geführt, so beispielsweise, als er den 1958 eingeweihten Rathausneubau des Architekten Titus Taeschner ablichtete, oder 1961, als er nicht nur das VW-Bad mit seinem ikonischen Sprungturm, sondern auch den Sommer auf Fotopapier bannte. Zehn Jahre später entstand im Zuge eines Auftrags für das Olympische Dorf in München, wo die Sowjetunion im Haus ‚Wolfsburg‘ logierte, dessen Sportlerzimmer und Empfangsräume von Heidersberger mit 477 auf leichte Aluminiumplatten gezogene Bildtafeln ausgeschmückt wurden, eine seiner berühmtesten Fotografien: das Kraftwerk der Volkswagen AG. Jenes für Werk wie Stadt identitätsstiftende Bild ist inzwischen Teil der Sammlung zahlreicher Museen der Welt, darunter das Deutsche Historische Museum in Berlin, die MAST Foundation in Bologna oder die Møllersamligen Art Collection in Oslo. Die Aufnahme steht sinnbildlich für eine gewandelte Wahrnehmung industrieller Arbeit fern von Schmutz und Staub.

In Wolfsburg zählte er zu den Mitbegründern der am gleichnamigen Schloss ansässigen Künstlergruppe „Schloßstraße 8“, zu der beispielsweise auch Gustav Kurt Beck gehörte, und prägte mit ihr das erwachende kulturelle Leben der Stadt entscheidend mit. In den 1980er Jahren heiratete Heidersberger seine langjährige Fotolaborantin Charlotte Berger. Zugleich engagierte er sich politisch: Gemeinsam mit Pastor Hartwig Hohnsbein und dem 1. Bevollmächtigten der Wolfsburger IG Metall, Walter Kaufmann, setzte er sich für einen Bürgerantrag ein, der die Schaffung einer „Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus“ forderte - mit Erfolg.

 

Nationale und internationale Ausstellungen

Nachdem er in den 1960er Jahren im Kunstverein Wolfsburg und zweimal in der Neuen Galerie in Linz seine Fotografien ausstellen konnte, 1971 eine weitere Ausstellung in Wolfsburg zu sehen war, zeigten im folgenden Jahrzehnt unter anderem die Stadt- und Lichtbildgalerie in Ingolstadt, The Photographers Gallery in London und das Denmarks Fotomuseum in Herning seine Aufnahmen. Fast immer waren es seine experimentellen, künstlerischen Arbeiten wie seine Rhythmogramme, für die sich die Ausstellungsmacher und Kuratorinnen begeisterten. Doch ist er 1984 auch am Pariser Centre Pompidou an der Ausstellung „Image et Imaginaires d’Architecture“ unter anderem mit seiner Ansicht der Jahrhunderthalle/Feierabendhalle der Farbwerke Höchst in Frankfurt Höchst, des Osram-Verwaltungsgebäudes in München und des Kraftwerks der Volkswagen AG beteiligt, so dass die 1980er Jahre als die Dekade seines internationalen Durchbruchs gelten können. Seine Aufnahmen des Wolfsburger Kulturzentrums aus der Feder des finnischen Architekten Alvar Aalto werden 1998 seitens des Museum of Modern Art in New York angefragt und in der Ausstellung „Alvar Aalto: Between Humanism and Materialism“ gezeigt. So ist es ganz offenbar gerade Heinrich Heidersbergers Fähigkeit, in den unterschiedlichsten fotografischen Feldern zu reüssieren und dabei stets ästhetische Prinzipien mit funktionalen Aspekten zu verbinden, die ihn zu einem herausragenden Fotografen der Nachkriegszeit machten. Er blieb seiner Passion bis ins hohe Alter treu. Für sein „engagiertes Wirken auf kulturellem Gebiet“ wurde ihm im Oktober 2003 das Ehrenbürgerrecht der Stadt Wolfsburg verliehen. Dort wurde bereits im Jahr zuvor in seinen Atelierräumen im Schloss Wolfsburg das Institut Heidersberger gegründet. Am 14. Juli 2006, wenige Wochen nach seinem 100. Geburtstag, verstarb Heinrich Heidersberger in Wolfsburg. Er hinterließ ein fotografisches Werk, das etwa 130.000 Negative sowie 20.000 Positive umfasst.